1. Einleitung

Das zur Eröffnung analysierte Urteil des BGH vom 26.11.2015 – Az. I ZR 174/14 (= openJur 2016, 238, Randnummern ohne Kennzeichnung entstammen diesem Urteil ) ist ein Paradebeispiel für die Wirkung von Grundrechten im Privatrecht. Der BGH befasst sich im Rahmen der mittelbaren Drittwirkung mit den Art. 1, 2, 5, 10, 12 und 14 GG sowie den Art. 7, 8, 11, 16, 17 EU-GRC.

Das Urteil erging anlässlich eines Kölner Falls aus dem Jahre 2010. Mehrere Tonträgerhersteller hatten ein Telekommunikationsunternehmen darauf verklagt, den Zugriff der Internetnutzer auf die Seite „Goldesel.to“ zu verhindern. Dort befänden sich mehrere tausend Links zu Musikstücken im Filesharing-Network „eDonkey“, an denen sie die ausschließlichen Nutzungsrechte innehätten. Gegen den russischen Host-Provider könne man nicht effektiv vorgehen. Somit sei das Telekommunikationsunternehmen als Access-Provider im Rahmen der Störerhaftung verpflichtet, den Zugriff seiner Kunden auf die Website zu verhindern. Sowohl Landgericht (LG Köln, ZUM-RD 2011, 701) als auch Oberlandesgericht Köln (OLG Köln ZUM-RD 2014, 639) haben die Klage abgewiesen. Parallel dazu entschied der BGH am gleichen Tag einen aus Hamburg stammenden Fall (Urt. v. 26.11.2015 – I ZR 3/14 = ZUM-RD 2016, 156), bei dem die Gema Klägerin war. Auch dort gaben Landgericht (LG Hamburg, ZUM-RD 2010, 902) und Oberlandesgericht (OLG Hamburg, ZUM-RD 2016, 183) im Ergebnis der Beklagten Recht.

Der BGH bestätigte letztlich die Rechtsprechung der Vorinstanzen, allerdings mit deutlich anderen Gründen. Zwischen den einzelnen Urteilen, die vom Blickwinkel der meistrezipierten Entscheidung des BGH im Kölner Fall aus analysiert werden sollen, ergeben sich bemerkenswerte Kontraste in der Deutung einzelner Grundrechte. Die Gerichte streiten vehement über Fragen genuin öffentlich-rechtlicher Grundrechtsdogmatik. So offenbart die Gemengelage dieser Urteile, auf welche Weise und mit welchen Folgen Zivilgerichte, insbesondere der BGH grundrechtlich argumentieren.
Begleitet wird die deutsche Grundrechtsdiskussion von einer europarechtlichen Ebene, die über das Instrument der richtilinienkonformen Auslegung auch in die zivilrechtliche Dogmatik hineinwirkt. Diese komplexe Situation wird jedoch dadurch entzerrt, dass es trotz dogmatischer Differenzen um die gleichen Fragen und die Entscheidung der gleichen Interessenkonflikte geht.

Zur grundrechtlichen Argumentation gelangen alle Instanzen über die Störerhaftung. Unbestritten ist in allen Urteilen, dass Access-Provider einen willentlichen und adäquat-kausalen Beitrag zur Verletzung des geschützten Rechts leisten. Dieses Ergebnis wird durch die während der Verfahren in den Instanzen ergangene Entscheidung des EuGHs (ZUM 2014, 494 – UPC Telekabel) weiter gefestigt. Beachtliche Probleme ergeben sich erst in der offenen, wertenden Interessenabwägung möglicher Prüfpflichten, die gefordert wird, um die Weite der Störerhaftung sinnvoll zu begrenzen (BGH, ZUM 2016, 349, 351; LG Köln, ZUM-RD 2011, 703).

Im Folgenden soll zunächst betrachtet werden, warum und welche Grundrechte nach Ansicht des BGH in diesem Urteil einbezogen werden müssen. Sodann sollen, ständig im Vergleich mit der Rechtsprechung der Vorinstanzen, die entscheidenden grundrechtlichen Fragestellungen und die Antworten des BGH darauf beleuchtet werden.

2. Warum Grundrechte?

Grundrechte gelangen in die vorliegenden Urteile auf zwei Wegen. Erstens aufgrund der europarechtlichen Komponente des Falls. Art. 8 III der InfoSoc-RL (RL 2001/29/EG) fordert, dass in den Mitgliedsstaaten eine Möglichkeit für die Rechteinhaber bestehen muss gerichtlich gegen Vermittler vorzugehen, durch deren Dienste geschützte Rechte verletzt werden. Selbstredend muss eine in Umsetzung dieser Richtlinie ergangene Maßnahme im Einklang mit den Grundrechten der EU-GRC stehen (BGH, ZUM 2016, 394, 352).

Zweitens argumentiert der BGH mit Verweis auf das Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198), dass die Grundrechte nach nationalem Verständnis als Verkörperung einer objektiven Wertordnung auf das Privatrecht ausstrahlten. Diese Ausstrahlung betreffe insbesondere Generalklauseln, hier also die „nach Art einer Generalklausel umschrieben[e] Bestimmung zumutbarer Prüfpflichten“ (BGH, ZUM 2016, 394, 352 f.).

Damit befindet sich der BGH auf der klassischen Linie. Als „Einbruchstelle“ (BVerfGE 7, 198, 206 in Berufung auf Dürig) dient nicht eine direkt kodifizierte Generalklausel, wie etwa § 242 BGB, sondern eine ergebnisoffene Interessenabwägung. Diese Abwägung wird anhand der jeweiligen Grundrechte der Beteiligten strukturiert. Die Interessen werden somit als grundrechtlich geschützte Positionen – gewissermaßen typisiert – ins Verhältnis gesetzt. Zumindest dahingehend ist die „Einbruchstelle“ im vorliegenden Urteil leicht anders gelagert, als es das BVerfG in Lüth vorsah. Denn die vom BVerfG ursprünglich anvisierten Generalklauseln sind besonders geeignet, weil sie auf außerrechtliche, soziale Gebote und damit Wertvorstellungen der Verfassung verweisen (BVerfGE 7, 198, 206).

Dass der BGH die mittelbare Drittwirkung durch die objektive Wertordnung begründet, überrascht zwar nicht, steht aber dennoch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den das Fernmeldegeheimnis betreffenden Darlegungen später im Urteil. In Rn. 65 argumentiert der BGH, Art. 10 I GG sei einschlägig, weil den Staat auch bezüglich privater Kommunikationsanlagen eine Schutzpflicht gegen unbefugte Kenntniserlangung Dritter treffe.

Das OLG Köln als Vorinstanz argumentiert, gleichfalls zu Art. 10 I GG, gewissermaßen kombinierend, indem es die Wertentscheidungen des Art. 10 erst deswegen einbeziehen will, weil eine staatliche Schutzpflicht besteht (OLG Köln ZUM-RD 2014, 639, 649). Dabei bezieht sich das OLG auf die gleiche Literatur, auf welche der BGH bei der Begründung allein mittels objektiver Wertordnung verweist (Durner, ZUM 2010, 833, 836 f.). Unverständlich bleibt allerdings, warum das OLG Köln im Gegensatz zum BGH darauf verzichtet, die Drittwirkung auch für andere Grundrechte als den Art. 10 GG zu begründen.

Dieser Vergleich zeigt, so lässt sich als Zwischenergebnis festhalten, nach wie vor bestehende Unsicherheiten bei der Begründung mittelbarer Drittwirkung im Privatrecht. Jedenfalls die Literatur favorisiert aus Gründen der Handhabbarkeit eine schutzrechtsorientierte Begründung der mittelbaren Drittwirkung (vgl. nur Durner in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 77. El Juli 2016, GG. Art. 10 Rn. 113 f.).

Nach Einführung beider Grundrechtsregime ist sofort die Frage aufgeworfen, wie sich beide in der Prüfung zueinander verhalten. Der BGH und die Kölner wie Hamburger Instanzen gelangen hier zu abweichenden Ergebnissen.
In beiden Urteilen legt der BGH dar, dass zwar grundsätzlich allein unionsrechtliche Grundrechte einschlägig seien, wegen des Gestaltungsspielraums der Mitgliedsstaaten in der Umsetzung allerdings noch Raum für eine nationale Grundrechtsprüfung bleibe (Rn. 32-35). Das bedeutet eine kombinierte Prüfung europäischer und deutscher Grundrechte, die deren vergleichbare Schutzbereiche in der privatrechtlichen Anwendung demonstriert.

Das LG Köln verweist ebenfalls auf den durch Art. 8 III InfoSoc-RL offen gelassenen Konkretisierungsspielraum, sieht aber einen Vorrang nationalen Rechts dahingehend, dass sich aus richtlinienkonformer Auslegung keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für den Eingriff in deutsche Grundrechte ergeben könne (LG Köln ZUM-RD 2011, 701, 704). Europäische Grundrechte werden deshalb gar nicht angesprochen. Ebenso verfahren das LG und das OLG Hamburg, die völlig auf europarechtliche Überlegungen verzichten und den deutschen Gesetzgeber energisch zum Tätigwerden auffordern (vgl. nur OLG Hamburg ZUM-RD 2016, 193, 193 ff.).
Dem widerspricht in Bezug auf den EuGH (ZUM 2014, 494 – UPC Telekabel) bereits das OLG Köln (OLG Köln ZUM-RD 2014, 639, 646), dem sich der BGH anschließt (Rn. 35).
Insofern erweist sich die kombinierte Betrachtung europäischer und nationaler Grundrechte keineswegs als eine Selbstverständlichkeit, sondern zumindest im vorliegenden Fall als eine Praxis, die sich erst in Rezeption der Rechtsprechung des EuGHs herausgebildet hat.

3. Grundrechtliche Streitfragen zwischen Access-Provider, Rechteinhaber und Gericht

Sechs Grundrechtspositionen fließen in die Interessensabwägung des BGH ein. Von besonderem Interesse hinsichtlich der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten ist dabei die Argumentation des BGH zum Fernmeldegeheimnis und zur Informationsfreiheit der Internetnutzer. Vor diesen Grundrechten, die sogleich ausführlicher in den Blick kommen, führt der BGH zunächst die Gewährleistung des Eigentums in Art. 17 II EU-GRC und Art. 13 I GG zugunsten der Tonträgerhersteller auf (Rn. 34).

Zweitens werden das Recht auf unternehmerische Freiheit (Art. 16 EU-GRC) sowie das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) aufseiten des Telekommunikationsunternehmens ins Spiel gebracht. Berührt sei die Freiheit des Unternehmens, über seine entsprechenden Ressourcen zu verfügen (Rn. 37).
Die Berufsfreiheit nimmt der BGH zum Anlass für umfangreiche technische und wirtschaftliche Erwägungen (Rn. 38-52) und verpflichtet im Ergebnis den, die eigenen Ressourcen so darzustellen, dass die Einschränkung seiner unternehmerischen Freiheit sichtbar und der grundrechtlichen Abwägung zugänglich wird.

Der folgende Verweis auf das sozial erwünschte Geschäftsmodell des Telekommunikationsunternehmens, den die Vorinstanz noch Art. 14 GG zuordnete (Rn. 29), bringt außerrechtliche und gesellschaftliche Aspekte in die Diskussion ein. Bei der Problematik, ob die in Frage kommenden Sperren überhaupt hinreichend effektiv sind, wehrt der BGH Bedenken hinsichtlich von Umgehungsmöglichkeiten auf Nutzer- wie Betreiberseite mit dem Grundrecht auf Eigentum ab (Rn. 47-49). Der Rechteinhaber dürfe nicht schutzlos stehen, insofern könne sich der Störer nicht auf immer noch mögliche Beeinträchtigungen durch andere berufen (Rn. 47). Hier wird wieder der Gedanke der Schutzpflicht mobilisiert, um die Wirkung des Grundrechts zwischen den Privaten zu rechtfertigen. Der Staat kommt seiner Schutzpflicht u.a. durch die Regelungen des Urheberrechts nach (vgl. Hufen, Staatsrecht II 4. A., § 38 Rn. 44) und verhielte sich insofern widersprüchlich, wenn diese den Rechteinhaber gegenüber erkannten Verletzungen schutzlos stellen dürften.

Die Vorinstanzen hatten noch argumentiert, die einfache Umgehbarkeit, besonders durch junge Internetnutzer, stehe einer Eignung aller möglichen Maßnahmen entgegen (vgl. LG Hamburg ZUM 2010, 902, 906, ähnlich und mit mehr Datenmaterial OLG Köln ZUM-RD 2014, 639, 656 ff.). Der BGH dagegen deutet den erforderlichen Grundrechtsschutz offenbar so, dass nicht die Geschütztheit insgesamt, sondern nur der Schutz gegen konkrete Beeinträchtigungen gegeben sein muss. Eine Maßnahme, die insgesamt keinen messbaren Vorteil des Rechteinhabers zur Folge hat, kann damit zumindest hinsichtlich des Eigentumsschutzes als effizient gelten. Das erscheint merkwürdig. Die Alternative, wegen der Besonderheiten des Internets einen Schutz für unmöglich zu erklären, überzeugt allerdings noch weniger.
Der deutliche Wille, einen irgendwie gearteten Schutz zu gewährleisten, schlägt sich auch darin nieder, dass der BGH auf eine empirische Prognose des Nutzerverhaltens, womöglich anhand einer Figur des durchschnittlichen Internetnutzers, völlig verzichtet (Rn. 48). Dass beim Nutzer ein gesteigertes Unrechtsbewusstsein durch erfolglosen Zugriff hervorgerufen wird (Rn. 48), scheint nicht sehr plausibel. Allenfalls das parallele Angebot legalen und erschwinglichen Zugriffs, zB durch Streaming, oder die Angst vor empfindlicher Strafe könnte womöglich tatsächlich Abhilfe schaffen. Das war aber selbstredend nicht Thema des Verfahrens.

Gegen Ende des Urteils führt der BGH die ebenfalls einschlägigen Grundrechte auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 EU-GRC) und informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 und 2 I GG) nicht mehr eigens in die Abwägung ein. Stattdessen prüft er § 95 TKG, woraus sich schließen lässt, dass das Gericht in dieser Vorschrift eine zureichende einfachgesetzliche Berücksichtigung der Grundrechte und ihres Stellenwerts in der vorliegenden Konstellation erblickt (Rn. 76 ff.)

Zentraler Streitpunkt des gesamten Verfahrens ist, wie bereits erwähnt, aus grundrechtlicher Sicht Art. 10 I GG. Erstens war fraglich, in welchen Sperrmaßnahmen des Access-Providers (DNS-Sperre, IP-Sperre, URL-Sperre, vgl. Rn. 61 ff.) ein Eingriff in Art. 10 zu sehen sei. Bei angenommenem Eingriff war die Folgefrage aufgeworfen, ob aufgrund der Wesentlichkeitstheorie eine Entscheidung des Gesetzgebers erforderlich sei. Der BGH verneint beides (Rn. 65-74). Damit setzt er sich von den Vorinstanzen ab. Das LG Köln sowie das LG und OLG Hamburg erklärten sämtliche Sperrmaßnahmen ohne eine klärende gesetzgeberische Maßnahme für unzulässig, was vor allem aus der Vagheit einer ungeschriebenen Störerhaftung folge (vgl. nur OLG Hamburg, ZUM-RD 2016, 183, 194).

Das OLG Köln sieht dies zumindest für URL-Sperren ähnlich. Nur mittels dieser Maßnahme erlange der Access-Provider Kenntnisse, die über das für die reine Zurverfügungstellung des Internetzugangs nötige und damit zulässige hinausgingen. Diese Wertung ergebe sich aus § 88 TKG, mit welchem der Gesetzgeber die grundrechtliche Schutzpflicht hinsichtlich Art. 10 I GG umgesetzt habe (OLG Köln ZUM-RD 2014, 639, 649 f.).

Völlig unterschiedlich bewerten die Gerichte in diesem Kontext das inzwischen wieder außer Kraft getretene Zugangserschwerungsgesetz. Das OLG Köln misst diesem Gesetz lediglich Bedeutung dahingehend bei, dass bestimmte, der URL-Sperre ähnliche Maßnahmen, einen Eingriff in Art. 10 GG darstellten und der Gesetzgeber, wenngleich er dies nur vorsorglich tat, daher richtigerweise das Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG beachtet habe (OLG Köln ZUM-RD 2014, 639, 650). Dem gegenüber deuten das LG Hamburg (ZUM 2010, 902, 905) und das OLG Hamburg (ZUM RD-2016, 183, 193) das Gesetz exakt umgekehrt; der Tatsache, dass der Gesetzgeber selbst bei einer so klaren Materie auf eine rein vertragliche Sperrverpflichtung verzichtet habe und auch für keine andere Angelegenheit an eine Zugangserschwerung gedacht habe, zeige dessen Auffassung, dass mit der Sperrung ein schwerwiegender Grundrechtseingriff einhergehe. Daher verbiete sich eine richterliche Rechtsfortbildung völlig (OLG Hamburg ZUM RD-2016, 183, 193).

Hinsichtlich des Fernmeldegeheimnisses verneint der BGH nach ausführlicher Darstellung der Literatur einen Eingriff in das Grundrecht. Der reine Zugriff sei wie die Nutzung eines Massenmediums zu bewerten, die Art. 10 GG I nicht erfasse, da dieser nur Individualkommunikation schütze (Rn. 68). Gleichwohl erlangt der Access-Provider, wie das OLG Köln richtig feststellt, zumindest bei URL-Filterung Informationen darüber, welche Inhalte des Internets welchen Nutzer interessieren (OLG Köln ZUM-RD 2014, 639, 650). Der BGH scheint das zu sehen und beruft sich daher auf Rechtsprechung des BVerfG, die zumindest bei anonymer, spurenloser Kenntnisnahme ohne Erkenntnisinteresse keinen Eingriff annehme (Rn. 69). Der Schutzzweck des Art. 7 EU-GRC sei ebenso wenig einschlägig (Rn. 70). Ob diese stark telelogische, am Paradigma der Überwachung durch den staatlichen Beamten ausgerichtete Interpretation vollends überzeugt, ist zumindest zweifelhaft. Jedenfalls der individuelle Nutzer muss sich bei einer URL-Sperre mit einer zielgerichteten Kontrolle seines gesamten Datenverkehrs, die auf einen Generalverdacht der Rechteinhaber folgt, abfinden.

Hinsichtlich der Bedenken der Vorinstanzen, wegen der Wesentlichkeitstheorie sei ein parlamentarisches Gesetz erforderlich, antwortet der BGH knapp, jedenfalls aus der Kontroverse um das Zugangserschwerungsgesetz könne das nicht geschlossen werden. Dieses betreffe nicht das Verhältnis zwischen gleichgeordneten Grundrechtsträgern. Mit der Störerhaftung sei eine auch aus Sicht des Gesetzgebers hinreichende Rechtsgrundlage gegeben (Rn. 73 f.).

Bemerkenswert ist, dass der BGH dabei auf die Gleichordnung von Rechteinhaber und Access-Provider abstellt, obwohl speziell ein Eingriff in den Art. 10 sich aufseiten des Nutzers ergibt, der faktisch seinem Access-Provider keineswegs gleichgestellt ist. Auch hier könnte man, sofern ein Eingriff unterstellt wird, Zweifel anmelden. Denn würde die exakt gleiche Überwachung durch den Staat vorgenommen, könnte der Nutzer ein Gesetz verlangen. Wird die Überwachung aber durch ein Zivilgericht angeordnet, so braucht es keine parlamentarische Entscheidung mehr.

In diesem Streit materialisiert sich eine bereits von Canaris erkannte Problematik (Grundrechte und Privatrecht, S. 81 ff.). Canaris meint im Ausgangspunkt, der Gesetzgeber habe bei der Verwirklichung von Schutzgeboten zwischen Über- und Untermaßverbot einen weiten Spielraum, könne also auch über das Minimum hinaus schützen (S. 83). Die Gerichte seien dagegen nur zur Gewährleistung genau des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes befugt (S. 87).

Ein Gesetzesvorbehalt sei für die Gewährleistung von Schutz ungeeignet, da er sich nur auf die Eingriffssituation beziehe (S. 89). Auf dieser Linie bewegt sich auch der BGH, wenn er den Gesetzesvorbehalt im Bürger-Bürger Verhältnis für unanwendbar erklärt (Rn. 72). Der Vorbehalt sei nur relevant, wenn durch den Schutz des einen wieder in ein anderes Grundrecht eingegriffen werde und sich dabei mehrere gleichwertige Schutzmöglichkeiten böten. Allein dann müsse der Gesetzgeber eine Entscheidung treffen. Anderenfalls werde die Grundrechtskollision bereits dadurch gelöst, dass der Eingriff wegen des Schutzgebotes verfassungsrechtlich zwingend sei (S. 89 f.)

Auf den vorliegenden Fall angewendet bedeutet dies, dass mit Canaris ein Gesetzesvorbehalt nur dann bestünde, wenn der Schutz der Grundrechte der Rechteinhaber allein durch verschiedene, gleichwertige Eingriffe in die Grundrechte der Nutzer oder des Access-Providers gewährleistet werden könnte. Diese Situation liegt aber nicht vor.

Nach diesem Verständnis kommt Zivilgerichten eine erhebliche Macht zu, grundrechtlich hochrelevante Sachverhalte allein zu entscheiden, da ein Eingreifen der Legislative nur sehr selten erforderlich sein wird. Der BGH, so zeigt das Urteil, kann ohne Weiteres eigenständig den Schutzbereich des Art. 10 I GG bestimmen und dem Schutz des Rechteinhabers eine alle anderen Grundrechte überwiegende Bedeutung beimessen.

Nicht nur was das Fernmeldegeheimnis anbetrifft, sondern auch bezüglich der Informationsfreiheit (Art. 11 I EU-GRC, Art. 5 I 1 GG) wird dem Nutzer vom BGH eine eher schwache Stellung zuerkannt. Der Anbieter der Website dürfe sich nicht hinter wenigen legalen Angeboten verstecken können (dann stünden die Rechteinhaber nämlich erneut schutzlos dar). Im Lichte des Grundrechts auf Informationsfreiheit sei daher auf das Gesamtverhältnis von rechtmäßigen zu rechtswidrigen Inhalten abzustellen (Rn. 55). Diese so genannte „Overblocking-Problematik“ hatte das OLG Köln anhand der absoluten Zahlen entschieden und argumentiert, der Rechteinhaber könne nicht die Blockierung von 4000 legal abrufbaren Dateien verlangen, um den Zugriff auf 120 geschützte Titel zu verhindern (OLG Köln ZUM-RD 2014, 639, 656). Zumindest gewisse Unstimmigkeiten ergeben sich daraus, dass der BGH einerseits die Effektivität der Sperre konkret fallbezogen beurteilen möchte, die Verhältnismäßigkeit aber an einer Gesamtbetrachtung des Angebots festmacht (vgl. Rn. 47 und Rn. 55).

Ebenfalls unstimmig erscheint, dass der BGH die beachtliche Problematik, wie Dritte ihre Rechte einbringen können, wenn sie am Ausgangsverfahren zwischen Access-Provider und Rechteinhaber gar nicht beteiligt ist, überaus knapp entscheidet. Der Nutzer steht hier wieder schwach. Denn ohne Argumentationsaufwand stellt das Gericht fest, das Vertragsverhältnis des Nutzers zum Access-Provider genüge den entsprechenden Anforderungen des EuGHs (Rn. 57). Ob damit dem Nutzer überhaupt genügend gerichtlicher Schutz geboten wird, ist hochgradig zweifelhaft. Er kann, wenn überhaupt, nur ex-post und abhängig vom Verhalten des Access-Providers Stellung nehmen. Vorgerichtliche Optionen fehlen ganz.
Anbietern von Inhalten, die von Overblocking betroffen sind, kommt darüber hinaus nahezu gar kein Rechtschutz zu (vgl. zum Ganzen Spindler GRUR 2014, 826, 833).

Unabhängig davon, was hier in der Sache stimmt, ist kaum einsichtig, weshalb der BGH zum Fernmeldegeheimnis ausführlich Stellung nimmt, diesen Literaturstreit aber apodiktisch und wenig nuanciert entscheidet. Man könnte vermuten, dass bereits dies nicht völlig außer Zusammenhang damit steht, dass am gesamten Verfahren kein Nutzer und kein Inhalteanbieter beteiligt war.

Als Ergebnis dieses ersten Beitrags zeigen sich drei Tendenzen. Erstens ist die gesamte Abwägung der Zumutbarkeit von Prüfpflichten vom LG über das OLG zum BGH immer mehr grundrechtlich strukturiert und bestimmt, obwohl sich die zugrundeliegenden Interessenkonflikte nicht ändern. Die Grundrechte entfalten als typisierte Interessenbündel, die miteinander abgewogen werden müssen, eine deutliche Ordnungswirkung. Zweitens wird eine zunehmende Europäisierung offenbar, die jene Interessenbündel zwei parallellaufenden und gleichberechtigt geprüften Grundrechtsregimen zuordnet. Drittens fällt auf, dass der BGH den am Verfahren zwischen zwei Privaten nicht beteiligten Dritten eine konsequent schwache Stellung einräumt. Auch die Legislative hat kaum Bedeutung, vielmehr genügt die (zivil)richterliche Macht in den Augen des BGH vollends zur Entscheidung des Grundrechtskonflikts (sehr skeptisch zu den eigenen Kompetenzen noch OLG Hamburg ZUM-RD 2016, 183, 194).

Ob jene Umgangsweise des BGH mit Grundrechten im Privatrecht, wie sie in diesem Urteil zum Ausdruck kommt, typisch, außergewöhnlich oder jedenfalls üblich ist, wird sich allerdings erst im weiteren Verlauf der Analysen und Kommentare in diesem Blog zeigen.

–Ruben Dillmann